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Brandbriefe ausgewertet

An der Aktion „Therapeuten am Limit“ beteiligten sich im letzten Jahr über 1000 Heilmittelerbringer und schrieben Brandbriefe an Heiko Schneider. 629 wurden nun durch Prof. Dr. Heidi Höppner und Dr. Eva-Maria Beck sowie einem Team aus Studierenden qualitativ ausgewertet.

Als Physiotherapeut Heiko Schneider im vergangenen Frühjahr seine Bewegung „Therapeuten am Limit“ startete, einen Brandbrief über die unhaltbaren Missstände im Heilmittelerbringerbereich schrieb und seine Kollegen dazu aufrief, es ihm gleichzutun, war er sich sicherlich nicht bewusst, dass er damit zum einen eine der medienwirksamsten Aktionen der letzten Jahre im Gesundheitssektor starten würde – und dass seinem Aufruf zum anderen an die 1000 Therapeutinnen und Therapeuten folgen würden.

Am 28. Mai des vergangenen Jahres machte sich Heiko Schneider auf, seinen Brandbrief – und die der über 1000 Therapeutenkollegen – mit dem Fahrrad von Frankfurt am Main nach Berlin zum Bundesgesundheitsministerium zu bringen. Eine Woche dauerte die Tour und wurde zu einer aufsehenerregenden Aktion. Nicht nur, weil ihn zahlreiche Physio- und Ergotherapeuten, Logopäden, Sprachtherapeuten, Masseure und medizinische Bademeister sowie Podologen bei der Übergabe vor Ort unterstützten, sondern auch durch die unerwartet hohe Beteiligung – die noch einmal verdeutlichte, wie ernst es wirklich um die aktuelle Situation der Heilmittelerbringenden gestellt ist.

Die Brandbriefe unter dem Motto „Was mich ans Limit bringt“ sind Zeugnisse nahezu unzumutbarer Umstände, unter denen Therapeuten täglich ihre wichtige Arbeit ausüben: neben den immens hohen Aus- und Fortbildungskosten, ist es vor allem auch die existenzbedrohende geringe Vergütung, welche die Therapeuten ans Limit bringt.

Durch die hohe Beteiligung der Heilmittelerbringenden und den Fakt, dass es bisher noch keine umfassenden Berichte über deren aktuelle Arbeitssituation gab, kam schnell die Idee auf, die Inhalte der Brandbriefe wissenschaftlich auszuwerten und die Ergebnisse zu veröffentlichen. Zu diesem Zweck wandte sich Heiko Schneider an die Alice Salomon Hochschule Berlin (ASH), wo er auf Prof. Dr. Heidi Höppner und Dr. Eva-Maria Beck traf, die sich dieses Vorhabens annahmen. Prof. Dr. Heidi Höppner ist ihres Zeichens Professorin für Physiotherapie an der ASH, Sozialwissenschaftlerin und Physiotherapeutin. Dr. Eva-Maria Beck ist Gastdozentin für Forschungsmethoden und Changemanagerin im Modellstudiengang Physio- / Ergotherapie, ebenfalls an der ASH.

Die Wissenschaftlerinnen ordneten den Inhalten der Brandbriefe durch induktiv geleitete Materialanalyse sieben verschiedenen Dimensionen zu. Vereinfacht gesagt, schlossen sie von immer wieder in den individuellen Brandbriefen erwähnten Problemen auf sieben generelle Themen, welche die Arbeitsbedingungen der Heilmittelerbringenden fast unerträglich machen. Besonders interessant an den Briefen fanden die beiden Forscherinnen den Aspekt, dass diese Briefe nicht explizit für die Wissenschaft, sondern für einen Kollegen geschrieben wurden – wodurch sie emotional besonders berührten.

Die erste Dimension, die Höppner und Beck bei dieser qualitativen Auswertung ausmachen konnten, ist die Sicherung therapeutischer Fachkräfte. Fast alle ausgewerteten Brandbriefe gehen auf den Therapeutenmangel und das damit verbundene Problem der Stellenbesetzung ein. Die Heilmittelerbringenden sehen die Ursachen dafür in der fehlenden Attraktivität des Berufes, wodurch der Nachwuchs ausbleibt oder nach kurzer Zeit den Beruf wechselt. Auch der Wandel des Gesundheitswesens wurde als eine weitere Dimension herausgearbeitet. Damit gemeint ist das durch den demografischen Wandel herbeigeführte veränderte Patientenklientel (gleichzeitig werden die Menschen immer älter, aber auch die Geburtenrate steigt an) sowie die neuen Aufgaben für Heilmittelerbringende und die neuen Ausbildungsmöglichkeiten.

Die dritte gefundene Dimension ist die Patientenversorgung. Hier geht es um die Unterversorgung der Patienten durch den immer größer werdenden Fachkräftemangel. Hausbesuche können nicht mehr oder kaum noch durchgeführt werden und auch die Therapiezeittaktung ist problematisch. Eine weitere Dimension, die aus den Brandbriefen geschlossen werden konnte, ist die Leistungsbereitschaft. Hohe Fortbildungskosten und wenig Aufstiegsmöglichkeiten führen immer mehr Heilmittelerbringende in andere, besser bezahlte Berufe, auch wenn sie ihre Arbeit an sich sehr lieben. Dimension fünf behandelt die Organisation von Heilmittelerbringung. Dies bezeichnet den hohen bürokratischen Aufwand und die unzureichende Honorierung, welche eine Selbstständigkeit zur Falle werden lässt. Die vorletzte Dimension stellen die Forderungen der Heilmittelerbringenden dar. Diese betreffen unter anderem mehr Anerkennung für die Berufe, eine Anpassung des Systems an die gesellschaftlichen Veränderungen und die mit dem Fortbildungszwang verbundenen Zertifikatspositionen. Die siebte und letzte Dimension wurde von den Wissenschaftlerinnen mit „Zukunft“ umschrieben. Sie beschreibt vor allem die ungewisse finanzielle Absicherung im Alter, aber auch die Auswirkungen von mangelnder Anerkennung und einem großen Aufgabenfeld im Kontrast zu einer geringen Vergütung auf den potenziellen Nachwuchs.

Aus diesen sieben Dimensionen leiteten Höppner und Beck wiederum fünf Kernkategorien ab. Die erste ist die berufliche Gratifikationskrise. Für einen hohen Aufwand werden die Heilmittelerbringenden relativ gering entlohnt – sei es monetär oder durch eine andere Art der Anerkennung. Hinzu kommen eine mangelnde Arbeitsplatzsicherheit und fehlende Entwicklungsmöglichkeiten. Wer versucht, diese Dissonanz mit einem Überengagement zu beseitigen, läuft über kurz oder lang Gefahr, sich zu überanstrengen. Die zweite Kernkategorie wird von den Forscherinnen als „Seismograph für gesundheitliche Versorgung“ umschrieben. Das bedeutet, dass Heilmittelerbringende durch ihren nahen Kontakt zum Patienten ein gutes Instrument darstellen, um einen genauen Versorgungsbedarf zu ermitteln.

Die dritte Kernkategorie, die aus der Auswertung der Brandbriefe hervorging, ist die paradoxe Entwicklungsdynamik: zwar werden durch den demografischen Wandel immer mehr Heilmittelerbringende benötigt, aber nicht ausgebildet. Ebenso paradox ist es, dass ein akademischer Abschluss nicht zu einer höheren Vergütung führt, was viele junge Menschen davon abhält, ein Studium im Bereich Physio- oder Ergotherapie zu beginnen. Die vierte Kernkategorie betrifft systematische Steuerungsprobleme, wie etwa der Fakt, dass Therapeutinnen und Therapeuten für fehlerhafte Verordnungen haften oder den Krankenkassen wegen ihrer Honorare nachlaufen müssen. Die letzte Kernkategorie wurde als „fehlende Stimme im System“ beschrieben. Gemeint ist das Gefühl des Ausgeliefertseins der Politik gegenüber.

Die von Höppner und Beck aus der Auswertung der Brandbriefe gezogenen Schlüsse sind in Anbetracht der Ergebnisse wenig verwunderlich. Laut ihnen müssen zeitnah Verbesserungen der Arbeitsbedingungen erfolgen, welche die Heilmittelerbringenden auch deutlich spüren können. Die Arbeit, die von den meisten Therapeutinnen und Therapeuten als sinnhaft erlebt wird, muss in ihrer Bedeutung für das Gesundheitssystem und die Bevölkerungsgesundheit aufgewertet werden. Die Politik muss den Heilmittelerbringenden schnell die Aufmerksamkeit schenken, die sie schon lange benötigen, damit diese sich endlich ernstgenommen fühlen können. Leicht zu erreichen wäre dies mit einer zeitnahen deutlichen Vergütungserhöhung. Ebenso muss der Fachkräftemangel adäquat dokumentiert und artikuliert werden und die Akademisierung muss Vorteile für die Absolventinnen und Absolventen eines Studienganges in dem Bereich bringen sowie die Bürokratie vereinfacht werden. (thi)

VDB-Physiotherapieverband / Öffentlichkeitsarbeit
Redaktion „Therapie + Praxis“