Das Zertifikatssystem ist veraltet, obsolet, entbehrt jeder Grundlage.
Wir sollten es abschaffen. Besser gestern als heute. Weiterbildung ist wichtig für eine berufliche Entwicklung. Keine Frage – doch nicht um jeden Preis. Anders als in anderen Berufsgruppen lädt der Arbeitgeber die Leistungsträger seines Unternehmens nicht zur Schulung auf Unternehmenskosten ein. Der Physiotherapeut zahlt meist aus eigener Tasche, nimmt unbezahlten Urlaub, investiert in Weiterbildungen, deren Finanzierung ein Monatsgehalt übersteigen, manchmal zwei oder drei…
Ist die Ausbildung unzureichend?
Warum? Liegt es an einer unzureichenden Ausbildung, die Physiotherapeuten dazu verdammt, mehr und mehr zu investieren, um dem eigenen Anspruch gerecht zu werden? Oder liegt die Ursache in der fehlenden wissenschaftlichen Begleitung? Woher wissen wir, welche Therapie hilft und welche nicht? In der Realität bestimmt der Markt, spuckt alle paar Jahre neue Wunderkonzepte aus. Die Therapeuten buchen die Kurse für viel Geld, die Praxisinhaber stellen vorzugweise Kollegen mit entsprechenden Zertifikaten ein, die Fortbildungsanbieter suggerieren die Notwendigkeit der Weiterbildung, die Kassen rechnen Zusatzqualifikationen ab. Wer profitiert? Wer investiert? Das Missverhältnis zu Lasten der Therapeuten ist offensichtlich.
Sind Zertifikate Qualitätssiegel?
Doch es kommt noch schlimmer. Die Zertifikate halten nicht, was sie versprechen. Ein Zertifikatskurs garantiert keine Therapieüberlegenheit. Leider. Oftmals ist das Gegenteil der Fall. Schauen wir in die Neurologie. Eine evidenzbasierte Spiegeltherapie gehört nicht zu den Zertifikatskursen. Die Bobath-Therapie schon, obwohl Bobath nicht wirkungsvoller ist als andere Therapien. Die aktuelle Leitlinie der ReMOS-Arbeitsgruppe (Rehabilitation der Mobilität nach Schlaganfall) der deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation spricht Bobath keine Empfehlung aus. Studien zeigen keine Überlegenheit gegenüber einer spezifischen Therapie. Dennoch gehört ein Kursbesuch zu den Voraussetzungen der Abrechnungsposition Krankengymnastik auf neurophysiologischer Grundlage.
Zertifikate sind ein Minusgeschäft
Warum belegen wir diese Kurse ? Weil sie besser abgerechnet werden. Leider stimmt auch dieser Ansatz nicht. Schauen wir genau hin. Die Vergütung für KG-Neuro ist zwar höher, das Zeitfenster aber länger. Rechnen wir die Minuten gegen die Vergütung im Vergleich zur normalen Krankengymnastik auf, ist sie mitnichten lukrativ. Wirtschaftlich gesehen sind die Zertifikate ein Minusgeschäft.
Verlierer im Zertifikatsgeschäft
Die bayerischen Masseure sind die großen Verlierer im Zertifikatsgeschäft. Als sich vor Jahren der Markt veränderte, stiegen sie in MT ein, absolvierten die Ausbildung, investierten Geld und Zeit. Profitiert haben die Patienten, die Kassen, die Ausbildungsanbieter. Dann zerplatzte die Seifenblase, ohne Rücksicht auf Verluste. Ein Urteil des Bundessozialgerichts hob ein Landessozialgerichtsurteil auf und vorbei ist es mit der Manuellen Therapie. Leidtragende sind die Masseure, die trotz Einsatz und steter Weiterbildung keine wirkliche Aufwertung erfuhren. Der Wert des Zertifikats löste sich in Luft auf.
Auch Physiotherapeuten erfahren mit ihren üppigen Zertifikatsmappen mitnichten einen realen Aufstieg. War es nicht schon Loriot mit seinem Jodeldiplom, der uns den Physiotherapeuten einen Spiegel vorhielt? Doch nein, die Zertifikate kamen später. Und überhaupt: Die Lage ist zu ernst, um Witze zu reißen.
Schluss damit!
Setzen wir unsere Energie lieber für eine bessere Ausbildung und eine höhere Abrechnungsposition Krankengymnastik ein. Weiterbildung ja, doch grundständiges Wissen gehört in die Ausbildung und Weiterbildung in aufbauende kostenfreie Studiengänge. Die Politik scheint bereit für eine Ausbildungsreform – seien wir es auch und gestalten sie in unserem Sinne mit!
Daniela Driefert ist verantwortliche Redakteurin der Verbandszeitschrift THERAPIE UND PRAXIS, Leiterin SG 2 – VDB Öffentlichkeitsarbeit
Kommentar/Therapie und Praxis 05/2017